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Abstract

Stephan Jaeger

Performative Geschichtsschreibung:

Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel.

Hermaea 125. Berlin / Boston: de Gruyter, 2011. 396 pp. (xii + 384)

The book discusses German historical writing in various genres and discourses from the second half of the eighteenth-century, in which an epistemological interest in history overlaps with aesthetic models and effects. These hybrid texts that situate themselves between the discourses of historiography and literature perform history; they create cultural identities in national and world histories through their very writing techniques.

It is structured the following way: Prologue; 1. Performances and Narrative of Historiography in the late Eighteenth-Century; 2. Georg Forster’s History of Civilization: Progress and Critique; 3. Johann Gottfried Herder’s History of Humankind: Origin and Process; 4. Historical Writings and the Staging of History: Friedrich Schiller’s Secession of the Low Countries; 5. Historiographical Performances of National Identity: Johann Friedrich von Archenholz’ History of the Seven Years War (1756-1763); 6. Romantic Universal Histories (the Schlegels) and the end of performative historiography around 1800.

German Abstract (short)

Die Untersuchung zeigt zum ersten Mal die historische Notwendigkeit, warum aufgrund ihrer theoretischen und geschichtsphilosophischen Prägung gerade im deutschsprachigen Raum des späten 18. Jahrhunderts eine performative Geschichtsschreibung entsteht, die modernes historiographisches Erzählen erst ermöglicht. Hiermit wird die These vom Übergang der Geschichtserzählung zwischen Aufklärungshistorik und Historismus präzisiert. Die untersuchten Texte – sowohl Zivilisations- als auch Realgeschichtsschreibung umfassend – von Forster, Herder, Schiller, Archenholz bis zu den Brüdern Schlegel setzen Erzählmittel und ästhetische Strategien ein, um die Kontingenz der Geschichte zu überwinden und deren Gesetzmäßigkeit auszudrücken. Die vorliegende Arbeit differenziert zugleich die gängige These der Forschung im Zuge von ›linguistic‹ und ›narrative turn‹ aus, wonach die Realgeschichtsschreibung die Erzählverfahren der Literatur, gerade des Romans, übernimmt. Die historiographiespezifischen Darstellungstechniken werden mithilfe narratologischer und performanztheoretischer Verfahren herausarbeitet. Angesprochen werden daher sowohl Literatur- und Wissenschaftshistoriker als auch Literatur- und Geschichtstheoretiker sowie Geschichtsphilosophen.

Kapitelstruktur

I. Einleitung. Performative und erzählende Geschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert

II. Georg Forsters Zivilisationsgeschichtsschreibung. Fortschritt und Kritik

III. Johann Gottfried Herders Menschheitsgeschichte. Prozess und Europa

IV. Politische Geschichtsschreibung und die Bühne der Geschichte. Friedrich Schillers ›Abfall der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹

V. Die historiographische Inszenierung nationaler Identität. Johann Wilhelm von Archenholz’ ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹

VI. Romantische Universalgeschichtsschreibung und das (vorläufige) Ende performativer Geschichtsschreibung um 1800

German Abstract (long)

Im deutschsprachigen Raum bildete sich im 18. Jahrhundert eine starke Geschichtstheorie und -philosophie heraus, die sich erst gegen Ende des Jahrhunderts auf die historiographische Geschichtserzählung auszuwirken begann. Die Forschung hat diese Entwicklung funktionsgeschichtlich als Übergang zwischen Aufklärungshistorik und Historismus markiert. Was dabei übersehen wird, ist die von anderen europäischen Ländern zu unterscheidende Entwicklung einer performativen Geschichtsschreibung, in der sich Geschichtsphilosophie, Historik und Geschichtserzählung ergänzen.

Die Untersuchung zeigt die historische Notwendigkeit, warum gerade im deutschsprachigen Raum des späten 18. Jahrhunderts eine performative Geschichtsschreibung entsteht, die langfristig modernes Erzählen in der deutschsprachigen Historiographie erst ermöglicht. Die hier untersuchten historiographischen Texte setzen Erzählmittel und ästhetische Strategien ein, um die Kontingenz der Geschichte zu überwinden und deren Gesetzmäßigkeit auszudrücken. Aufgrund ihrer theoretischen und geschichtsphilosophischen Prägung braucht die deutsche Geschichtsschreibung eine performative Zwischenphase, in der der Prozess der Geschichte darstellbar und erzählbar gemacht wird. Die vorliegende Arbeit differenziert zugleich die gängige These der Forschung im Zuge von linguistic und narrative turn in der Geschichtswissenschaft, wonach die Realgeschichts­schreibung die Erzähl­verfahren der Literatur, gerade des Romans übernimmt: Die historiographiespezifischen Erzähl- und Darstellungstechniken sowie die textuellen Effekte von Geschichtsschreibung werden mithilfe narratologischer, poetologischer und performanztheoretischer Verfahren herausarbeitet.

Geschichtsschreibung in unterschiedlichen Genres wird also nicht nur der wahrheitsgetreuen Darstellung von historischen Ereignissen und Abläufen (referentielle Aufgabe) sowie der erzählerischen Sinnbildung und Versprachlichung von Geschichte (narrative Aufgabe) gerecht – beides wurde in der Forschung ausgiebig diskutiert –, sondern auch der geschichtsphilosophisch notwendigen Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Temporalisierung und Prozessualisierung von Geschichte (performative Aufgabe). Geschichte wird nicht einfach rückblickend berichtet oder nacherzählt, sondern vollzieht sich im historiographischen Text. Dieser operiert stärker präsentisch als eine nacherzählende Geschichtsschreibung, zum Beispiel durch Fokussierung auf den Prozess der Wahrnehmung von Geschichte. Mit der These von den ›Inszenierungen von Geschichte‹ für die deutsche Geschichtsschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird somit eine Position zwischen den Extrempositionen um die Faktizität bzw. Fiktionalität von Geschichtsschreibung eingenommen: zwischen dem pragmatischen Wahrhaftigkeitsanspruch von Geschichtsschreibung einerseits und ihrer Textualität und Performativität andererseits.

Performative Geschichtsschreibung erweist sich als ein Übergang auf Umwegen. Sie zeigt sich aufgrund der deutschen Betonung des Theoretischen, Allgemeinen und Philosophischen der Geschichte zuerst in Formen von Sekundärgeschichten – also als Historiographie über Wissensmodelle, nicht über historische Ereignisse, Handlungen oder die konkreten Einstellungen von Menschen. Dies gilt insbesondere für die Zivilisations- und Menschheitsgeschichtsschreibung, was an den Beispielen von Georg Forster Reise um die Welt (1778-1780) und an den beiden geschichtsphilosophischen Haupttexten Herders – Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) – vorgeführt wird. Sowohl in Forsters Zivilisations- als auch in Herders Menschheitsgeschichtsschreibung schaut der Leser niemals auf das eigentliche Geschehen, sondern immer auf eine funktionale Interpretation und Abstraktion. Die aufklärerischen Ideen von Fortschritt und Humanität werden bei Forster und Herder in Verfahren umgesetzt, die auf der Darstellungsebene den geschichtlichen Prozess ablaufen lassen. Das Sinnbildungsdefizit der Aufklärungsgeschichtsschreibung wird dabei nicht nur durch Plotstrukturierung, sondern auch durch die Inszenierung einer sekundären Geschichte, nämlich eines Metageschichtsthemas überwunden. Jenseits der theoretischen Reflexion Forsters entsteht ein Schreibverfahren, das den Prozess des Verstehens vollzieht, sodass ein dynamisches Geschichtsmodell entworfen wird, in dem Fortschritt und Fortschrittskritik zugleich ihren jeweiligen Platz haben. Herder versucht eine Balance zwischen allgemeinen Gesetzlichkeiten und dem historisch Besonderen und Individuellen zu finden und inszeniert u.a. die Idee eines imaginären Europas, durch die sich die Prinzipien von Humanität und Bildung entfalten können.

Gegen 1790 sind die neuen historiographischen Möglichkeiten auch in der ›Realgeschichtsschreibung‹, insbesondere der politischen und militärischen Geschichts­schreibung zu finden, wie an Friedrich Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1788) und Johann Wilhelm von Archenholz' Geschichte des siebenjährigen Krieges (1793) zu sehen ist. Beide Texte werden unter Heranziehung der jeweiligen Quellen, zeitgenössischer Historiographie sowie in Diskussion des Zusammenspiels von praktischer Geschichtsschreibung, Ästhetik und der Geschichts­theorie der damaligen Zeit untersucht. Es entsteht eine neue ästhetische Geschichtsschreibung, die auf Mitteln der alten anschaulichen und rhetorischen Geschichtsschreibung aufbaut, aber nicht mehr rein exemplarisch fungiert, sondern einen ganzheitlichen historischen Prozess – als humangeschichtlichen Fortschritt bei Schiller, als eine in der deutschen Nation gipfelnden Zivilisationsentwicklung bei Archenholz – ästhetisch zur Darstellung bringt. Zugleich deutet sich gerade bei Schiller bereits an, dass seine historiographische Darstellungsweise zwischen der Selbstreferenz des historiographischen Textes und der Referentialität bezüglich einer textexternen historischen Wirklichkeit in der akademischen Geschichtsschreibung auf Dauer nicht möglich ist.

Im Schlusskapitel wird die Übergangsphase der performativen Geschichtsschreibung im ausgehenden 18. Jahrhundert anhand romantischer Texte noch einmal widergespiegelt. Friedrich Schlegels »Reise nach Frankreich« (1803) erscheint gerade deshalb als performativ, weil die Einbildungskraft des Reisesubjekts es erlaubt, Geschichte zwischen Gegenwart, erinnertem Vergangenem und einer zukünftigen europäischen Vision imaginativ zu erfahren. Von dort werden die Interessen der Schlegels dann immer weniger poetisch und immer stärker auf historische Welten ausgerichtet. In Friedrich Schlegels Vorlesungen über Universalgeschichte (1805-06) und im universalgeschichtlichen Teil von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über Encyklopädie (1803) wird die Temporalisierung und das Ganzheitliche vorwiegend programmatisch behauptet sowie in Kausalschlüssen deduziert. In den Vorlesungen Über Neuere Geschichte (1810-11) gelingt es Friedrich Schlegel schließlich, ein stabiles Erzählgerüst aufzubauen, in dem der Geschichtsprozess erzählend zur Sprache gebracht werden kann. Eine performative Geschichtsschreibung wird zu dieser Zeit dann nicht mehr gebraucht.

Für die Historiographie über das späte 18. Jahrhundert hinaus gibt die performative Geschichtsschreibung jedoch neue Darstellungsmöglichkeiten, die immer dann gebraucht werden, wenn Geschichtsschreibung besondere Darstellungsherausforderungen zu bewältigen hat, die nicht durch ein festes Erzählgerüst zu bewältigen sind: Das ausgehende 18. Jahrhundert nutzt sie, um einen von Notwendigkeiten geleiteten Geschichtsprozess darzustellen; spätere Epochen versuchen z.B. auf performative Weise, das Unsagbare von Kriegs-, Gewalt- oder Genoziderfahrungen historiographisch zu erfassen.